2. Weltkrieg 1944/45

 

 

Bahnhof Albrechtsrode (Kuiken)
Zeitzeugenbericht  Werner Kahrau, (Preußische Allgemeine)

Von meiner Dienststelle, Bahnhof Schloßbach (Pillupönen), Kreis Ebenrode (Stallupönen), wurde ich im Juni 1944 zum Bahnhof Albrechtsrode (Kuiken) versetzt. Dort wurde mir vom vorgesetzten Betriebsamt Goldap die Leitung der Dienststelle übertragen. Der Bahnhof Albrechtsrode lag an der Eisenbahnstrecke Gumbinnen—Wehrkirchen (Szittkehmen)—Goldap. Am Einfahrtsignal A, 500m westlich vom Bahnhofsgebäude, verlief die Grenze zwischen den Kreisen Ebenrode und Goldap. Der Bahnhof Albrechtsrode lag am Nordostrand der herrlichen Rominter Heide.

Am 1. August 1944 wurde von der Gemeinde Schloßbach um 17 Uhr bekanntgegeben, daß alle Frauen und Kinder des Dorfes um 19 Uhr den Ort verlassen müssen. Meine Frau mit unserem dreijährigen Sohn und der vier Monate alten Tochter wurden von dem Bauern Otto Pilz nach Rodebach (Enzuhnen) mitgenommen. Die angreifenden Russen wurden nochmals aufgehalten. Nach einer Woche Aufenthalt in Enzuhnen kehrten die meisten Frauen mit den Kindern wieder zurück. Ende August wurden die Frauen und Kinder erneut evakuiert.

Das Getreide, die Kartoffeln und Rüben auf den Feldern sowie die Wiesen, alles deutete eine gute und reichliche Ernte an. Die nicht einberufenen, älteren Bauern arbeiteten friedlich auf den Feldern. Je näher der Herbst heranrückte, desto hoffnungsloser wurde die Lage entlang der ostpreußischen Grenze. Besonders gefährdet war der nördlich gelegene Grenzkreis Ebenrode und das im Osten des Kreises Goldap befindliche Grenzgebiet.

Bei der Deutschen Reichsbahn im Bereich des Betriebsamts Goldap, das bis Göritten im Kreis Ebenrode ausgedehnt war, gab es viel zu tun. Nachschubzüge kamen aus dem Landesinnern, Lazarettzüge fuhren in Richtung Westen. Lebensmittel und Munition wurden aus den Militärzügen entladen und mit Lastkraftwagen zur Front weiterbefördert.

Während der ersten Oktobertage hörte man den Geschützdonner immer näher kommen. Russische Tiefflieger kamen oft, störten den Betrieb bei der Eisenbahn und die Arbeit der Bauern auf den Feldern. Viele starben, unzählige wurden verwundet.

Die Rominter Heide zeigte sich für uns zum letzten Mal im malerischen Herbstschmuck. Nun wurden auch die noch anwesenden Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht. Wir Eisenbahner standen mit den noch im Grenzgebiet verbliebenen Männern allein da. Eine ungewohnte Stille herrschte. Man hätte annehmen können, es sei der tiefste Frieden im Land.

Nach dem 15. Oktober 1944 wurde es aber sehr unruhig. Die ersten Trecks mit Flüchtlingen aus dem Nachbarland Litauen zogen am Bahnhof vorbei und erreichten den nahen südlichen Teil des Kreises Ebenrode. Seit Tagen erschienen mehr deutsche Soldaten als bisher. Der öffentliche Zugverkehr wurde stark eingeschränkt.

Albrechtsrode (Kuiken)   Pr. Allgemeine Foto Kahrau

An der Strecke Gumbinnen-Schittkehmen-Goldap: Der Bahnhof Albrechtsrode (Kuiken)           (Foto Kahrau)

Am 18. Oktober fuhr ich vormittags mit dem Fahrrad nach Wellenhausen (Matzutkehmen) am Wysztyter See, um meine Schuhe vom Schuhmacher aus der Reparatur zu holen. Doch ich traf niemand mehr an. Viele Gehöfte waren bereits verlassen. Am Nachmittag, als meine Spätschicht begann, trübte sich der Himmel ein. Dunkle Wolken zogen auf. Viele Flüchtlinge mit dem notwendigsten Hab und Gut fuhren am Bahnhof Albrechtsrode vorbei in Richtung Damerau—Birkenmühle durch den Süden des Kreises Ebenrode.

Vom Reichsbahnbetriebsamt Goldap erhielt ich die Nachricht, daß noch ein Räumungszug über Dubeningen—Wehrkirchen nach Tollmingen verkehren soll, um das Gepäck der Flüchtlinge in Sicherheit zubringen. Der Räumungszug verkehrte jedoch nicht mehr. Um 15 Uhr bestand auch keine Fernsprechverbindung mehr mit dem Betriebsamt in Goldap. Der letzte fahrplanmäßige Personenzug war in den Morgenstunden von Wehrkirchen nach Gumbinnen gefahren.

Nach schweren Rückzugskämpfen standen unsere Soldaten enttäuscht an den Grenzpfählen unseres Heimatlands. Gegen 17 Uhr mußten wir Eisenbahner den Bahnhof Albrechtsrode auf Anordnung der Wehrmacht sofort räumen. Dieser plötzliche Aufbruch fiel uns schwer, sehr schwer. Es war meine letzte Fahrt mit dem Fahrrad am Nordrand der Rominter Heide entlang.

Wir Eisenbahner fuhren über Damerau, Dürrfelde, Kalkhöfen, Nassawen, Schanzenort und Eichkamp durch den südlichen Teil des Kreises Ebenrode zum Bahnhof zum Bahnhof Tollmingen. Uns schlug an diesem dunklen und stürmischen Oktoberabend die Abschiedsstunde.

Tollmingkehmen (Tollmingen)
Zeitzeugenbericht  Margarete Schmidt (WDR 3)

Der Vater von Margarete Schmidt, geboren in Tollmingkehmen, war als Eisenbahner am Bahnhof beschäftigt. Ursprünglich waren ihre Eltern Landarbeiter auf dem Gut der Rothes, doch 1932 fängt der Vater bei der Bahn an. Erst als einfacher Streckenwärter, später dann im Innendienst. Der Bahnhof steht am (nördlichen) Anfang des Dorfes. Die Eisenbahnerfamilien wohnten alle zusammen in einem zweistöckigen grauen Haus am anderen Ende des Dorfes, dort wo die Straße nach Warnen die Schienen kreuzt. […]

Noch weniger als die Rothes (Gutsbesitzer) ahnen Margarete Schmidt und ihre Familie (im September/Oktober 1944) daß die Front nicht mehr weit ist. Ihr Vater muss noch immer seinen Dienst am Bahnhof und an den Gleisen versehen, kann nicht einfach mit der Familie flüchten […].

Für die Familie von Margarete Schmidt ist die Nacht vom 19. auf den 20. Oktober ein Albtraum. Unter der Führung der Mutter von Wolfgang Rothe und ihrem Inspektor hat der Treck das Gut verlassen. Alle noch im dorf verbliebenen Bewohner werden auf den Treck mitgenommn. Bis auf die zwei Familien im Eisenbahnerhaus, das am Dorfende ein wenig abseits steht. Das Eisenbahnerhaus wurde vergessen, erinnert sich M. Schmidt, „die haben sie nicht benachrichtigt, die zwei Frauen. Vielleicht, weil sie angenommen haben, daß der Bahnhof noch besetzt ist. Aber die waren ganz allein da mit ihren Kindern. Die Nachbarin hatte zwei Kinder, und meine Mutter hatte den kleinen Hans. Im Dorf war alles leer. da war keine Menschenseele mehr.“

In dieser Situation, auf sich allein gestellt, die russischen Truppen nur noch wenige Kilometer entfernt, haben die beiden Frauen mit ihren Kindern großes Glück: Der Vater von M. Schmidt hat während seines Dienstes gerade im nahen Bahnhof zu tun. Kurzerhand nutzt er seine Möglichkeiten. „Er hat mit Kollegen eine Lok samt Güterwaggon rückwärts eingeschoben, also runter vom Bahnhof auf den Gleisen bis vor unser Haus an der Bahnschranke. Und so konnten sie ihre Frauen, die Kinder und deren Sachen einladen und wegfahren, bis in die Kreisstadt nach Goldap. Dort sind sie später mit dem Treck wieder zusammengetroffen.“ […]

Am frühen Morgen des 20. Oktober erreichen Einheiten der 84. Gardeschützendivision, wenige Stunden nachdem der Treck der Dorfbewohner sich in Bewegung gesetzt hat, den Ortsrand von Tollmingkehmen und werden von deutschen Truppen sofort in heftige Kämpfe verwickelt, die bis zum nächsten Tag andauern. Erst mit der Unterstützung der der 18. Gardedivision aus dem Süden kann Tollmingkehmen schließlich am folgenden Tag erobert werden.

 

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