Schlemmer Forts.

Kleinbahnerinnerungen
Schlemmer Fortsetzung

Oletzko-Eisenbahnkurier-300

Die Kujel, hier im Femininum gebraucht, doch im Masurischen ein maskulines Wesen, nämlich ein Eber, war mit ihren bei Windstille hoch aufsteigenden schwarzen Qualmwolken nicht nur ein augenfälliges optisches Wahrzeichen, auch ihre akustischen Signale tönten weit über die Felder bis zu den Landarbeitern, ihren Frauen und den Scharwerkern, wenn die Lokomotive zu läuten und durchdringend mit kurzen Unterbrechungen zu pfeifen begann, sobald sie an einem der vielen LP-Schilder vorbeifuhr, das einen unbeschrankten Feldweg oder einen Straßenübergang ankündigte. Das war für die Feldarbeiter das Zeichen, die Arbeit niederzulegen und die ersehnte Mittags- oder Vesperpause einzuleiten, und weil das Bähnchen in der schneefreien Zeit des Jahres meist pünktlich kam, wußten alle, wie spät es gerade war, auch wenn niemand eine Uhr bei sich hatte.

Ach, im Sommer, da war das Fahren mit unserer Kujel eine angenehme und an heißen Tagen bei geöffneten Fenstern sogar eine erfrischende Abwechslung vom täglichen Einerlei, und für uns Schulkinder, die wir jeden Tag mit ihr fuhren, war sie das Ziel unserer Wünsche, wenn wir in der vormittäglichen Sommerhitze in einem der ungemütlich-muffigen Klassensäle des aus wilhelminischer Zeit stammenden Backsteinbaus das Ende des Unterrichtes herbeisehnten, um mit ihr endlich nach Hause fahren zu können. So stürzten wir denn nach dem Klingelzeichen, welches das Ende der 6. Stunde verkündete, aus dem breiten Schulportal über die Treppe hinaus dem nahegelegenen Kleinbahnhof entgegen, wo die Kujel schon auf dem Abfahrtsgleis auf uns wartete, und die Lokomotive in kurzen rhythmischen Intervallen zischend überschüssigen Dampf abließ. Wir wußten dann, daß der Dampfdruck für die Abfahrt schon erreicht war, sodaß wir aus Angst, sie womöglich zu verpassen oder keinen Sitzplatz zu ergattern, wie eine wilde Horde auf den Bahnsteig zustürmten, obwohl die Zeit noch ausgereicht hätte, langsam zu gehen und dennoch rechtzeitig anzukommen. Die Jagd nach einem Sitzplatz stellte sich indes oft als unnütze Kraftanstrengung heraus, wenn wir nämlich feststellen mußten, daß entweder alle Plätze schon von Erwachsenen besetzt waren, oder wir Jüngeren von den Schülern der höheren Klassen oder den Abiturienten durch ein Daumenzeichen von unserem Platz vertrieben wurden, den wir uns unsere Rennerei hin und wieder hatten ergattern können. Obwohl alle Fahrgäste mir ihrer Fahrkarte und auch wir mit unserer Schülermonatskarte eigentlich ein Anrecht auf einen Sitzplatz besaßen, herrschte das ungeschriebene hierarchische Gesetz, wonach zuerst den Erwachsenen, dann den älteren Schülern und zuletzt den Quintanern und Sextanern ein Sitzplatz zustand, der ohne Aufforderung zu räumen war, wenn ein nächst älterer Fahrgast zustieg und kein Sitzplatz sonst frei war.

Diese Diskriminierung von uns Jüngsten empfanden wir als ungerechte Herabsetzung und Benachteiligung, so daß wir über eine Möglichkeit zur Gegenwehr nachzudenken begannen. Wir fanden sie schließlich darin, daß wir an solchen Tagen, an denen der Unterricht schon nach der 5. Stunde endete, frühzeitig zum Bahnhof gingen, und in einem Waggonabteil des bereitstehenden Zuges zum Bahnsteig hin den Eindruck erweckten, es sei völlig überfüllt, indem wir nur die Fensterplätze dorthin besetzten und uns bis zur Abfahrt mit dem Rücken gegen die Fensterscheiben stellten. So gelang es uns eine zeitlang, den Erwachsenen ein Schnippchen zu schlagen und reichlich Platz für manche Tobereien während der Heimfahrt zu haben, während die erwachsenen Fahrgäste in den überfüllten anderen Waggons stehen mußten, bis uns Schaffner Lekzik auf die Schliche kam und sie in unser Abteil holte. Das hinderte uns aber nicht, den Trick zu wiederholen, besonders dann, wenn er von einem seiner Kollegen vertreten wurde, bis auch der irgendwann unser Spielchen durchschaut hatte.
Diesen „Abteilbesetzertrick“ wandten wir allerdings nur bei regnerischem oder kaltem Wetter an, während wir es bei Sonnenschein und Sommerhitze viel interessanter fanden, uns während der Fahrt auf den Plattformen der Waggons aufzuhalten, die sich vor den Eingangstüren an den Stirnseiten eines jeden Wagens befanden und von denen jeweils eine geriffelte Metallplatte, die zum nächsten Waggon hin umgeklappt werden konnte, während der Fahrt den Übergang für den Schaffner ermöglichte. Dort ließen wir uns den kühlenden Fahrtwind um die Ohren blasen. der sich mit den Rauchschwaden aus der Lokomotive zwischen den Wagen verfing und unsere Haare zerzauste. Dort konnten wir, wenn der Zug auf freier Strecke anhalten mußte, und auf das Rattern der Räder und das Keuchen der Lokomotive die Stille folgte, die Telefondrähte „singen“ hören, die sich entlang der ganzen Strecke sanft durchhängend von Mast zu Mast zogen, gehalten von weißen hutartigen Porzellanhalterungen, die wie kleine Puppen anmuteten und an der Spitze eines jeden Telefonmastes nebeneinander auf einem eisernen Querträger angeordnet waren. Dort, auf der Plattform, turnten wir über die sich überlappenden seitlich quietschend hin und her scheuernden Verbindungsplatten von einer Plattform zur anderen, immer auf der Hut, nicht erwischt zu werden. Denn wir wußten: eigentlich war das alles nicht erlaubt, weil zu gefährlich, denn nur eine schlaff durchhängende Kette an beiden Seiten der Plattform zu den Trittbrettern hin bildete natürlich keine ausreichende Absicherung bei unseren riskanten Kapriolen, zu denen auch die „Blumenpflückwette“ gehörte.

Wenn es bergauf ging, fuhr das Bähnchen immer langsamer als sonst, so daß es uns mit einigem Geschick möglich war, Blütenstauden der Schafgarbe, der zahlreichen Schierlingsgewächse und auch Feldblumen, die in großer Zahl neben den Gleisen auf dem Bahndamm wuchsen, zu erreichen und zu pflücken. Dazu hängten wir die Sicherungskette aus, stiegen bis auf das unterste Trittbrett, gingen in die Hocke und versuchten, immer in Fahrtrichtung blickend und halb in der Luft hängend, die herannahenden Blütenpflanzen zu ergreifen, während wir uns mit der anderen Hand am Geländer der Plattform festhielten.
Zu diesem unerlaubten Treiben mochten uns jene Warnschilder wohl erst recht ermutigt haben, die auf jeder Stirnseite der Waggons angebracht waren: „Blumenpflücken während der Fahrt verboten!“ Daß wir dabei niemals von Herrn Lekzik erwischt wurden, hatten wir einerseits dem Umstand zu verdanken, daß die Wagen nur durch eine Tür, die zudem noch mit einem Fenster versehen war, von jeder Plattform aus betreten und verlassen werden konnten, was unserem ständigen Beobachtungsposten ermöglichte, uns zu warnen, wenn sich Schaffner oder Zugführer sich auf einem Kontrollgang näherten. Andererseits trieben wir dieses Spielchen immer nur, wenn der Zug eine Kurve durchfuhr, so daß der sich oft aus seinem Fenster lehnende Lokführer oder Heizer uns nicht sehen konnten, weil wir uns schlauerweise auf jener Waggonseite befanden, die zur Außenseite der Kurvenkrümmung hin lag. So blieb unser Vergnügen unentdeckt, und natürlich erfuhren unsere Eltern nichts davon, denn glücklicherweise kam dabei niemand zu Schaden.

Im Sommer war es auch –allerdings an einem ungemütlichen, schwülen und regenreichen Tag, der uns den Aufenthalt auf der Plattform vermieste– als wir wieder mit unserer Kujel nach Hause fuhren. Nachdem wir eingestiegen waren, merkten wir schnell, daß alle Sitzplätze besetzt waren und sogar viele Erwachsene stehen mußten. Die zahlreichen Gepäckstücke wie Körbe, Koffer, Säcke, Taschen und Einkaufstüten aus Papier füllten die Gepäcknetze und hölzernen Ablagen über den Sitzplätzen und versperrten sogar im Mittelgang dem Schaffner den Durchgang. Es war wohl Markttag in Treuburg gewesen, der das Landvolk so zahlreich zum Einkaufen gelockt hatte. Trotz der Proteste der stehenden Erwachsenen versuchten wir uns hindurchzudrängeln, um in den anderen Waggons nach einem Sitzplatz zu suchen. Doch überall standen die Fahrgäste dichtgedrängt. Als ich die Aussichtlosigkeit unserer Suche erkannt hatte, versuchte ich, aus der Not eine Tugend zu machen und spähte einen Sitzplatz aus, wo ich mich wenigstens mit dem Rücken anlehnen konnte. Ich fand ihn an einem Fenster zwischen gegenübersitzenden Fahrgästen, besser zwischen deren Beinen und Füßen. Mit meinem Tornister gegen die Fensterscheibe gelehnt und mit seitlich gespreizten Beinen, bemüht die Schwankungen des Waggons auf gerader Strecke auszubalancieren und der Fliehkraft auf meinen Körper in den scharfen Kurven entgegenzuwirken, überstand ich die ersten Kilometer bis zur Haltestelle Liebchensruh.
Doch dann wurden mir plötzlich die Beine weich, Schweiß trat auf meine Stirn und der Kopf begann zu schmerzen. Mein Blick trübte sich mehr und mehr, so daß ich die Fahrgäste nur noch verschwommen wahrnahm. Dann verspürte ich ein schnell zunehmendes Schwindelgefühl. Von all dem merkten die Leute um mich herum nichts; die Leute, die in der Mehrzahl mehr unbewußt als absichtlich dazu beitrugen, daß der schwülen Luft immer mehr Sauerstoff entzogen und sie zunehmend mit Nikotin und Rauch angereichert wurde. Ich war nämlich in ein Raucherabteil geraten, in dem sich der blaue Dunst seit der Abfahrt bei geschlossenen Fenstern gleichmäßig verteilt und nun auch die Lungen der Nichtraucher erreicht hatte. Ich spürte, daß meine Atmung immer flacher, kürzer und hastiger wurde, sah, daß sich Gegenstände und Menschen in einen diffusen grauen Schleier aufzulösen begannen und hörte, wie ihre Gespräche und der Lärm der ratternden Räder zu einem undifferenzierten Geräusch verschmolzen und immer mehr abebbten. Ich merkte, daß sich mein Körper sacht nach einer Seite neigte, versuchte noch instinktiv mit den Händen einen seitlichen Halt zu finden bis ich schließlich nichts mehr hörte sah oder fühlte: ich war bewußtlos geworden.

Dort, wo sich vorher niemand hatte, wo wir aber bei schönem Wetter so gerne herumtobten, fand ich mich, gestützt von zwei erwachsenen Fahrgästen wieder: auf der Plattform unseres Waggons, wo Fahrtwind und Regen meine Lebensgeister wieder geweckt hatten. Noch benommen von der vorübergehenden Bewußtlosigkeit und etwas schwach auf den Beinen, führte man mich zurück ins Abteil. Dort hatte man offensichtlich die Ursache meines Schwächeanfalls erkannt. Denn das Fenster, wo ich gestanden hatte, war heruntergelassen und die Luft des verqualmten Abteiles durch den Sog des Fahrtwindes ausgetauscht und gereinigt worden. Als ich durch die Tür trat, stellte ich erstaunt fest, daß sich aller Augen auf mich richteten, und neben dem geöffneten Fenster war jener Platz frei, auf dem vorher ein alter Mann mit dem Rücken zur Fahrtrichtung gesessen hatte. Vom Fahrtwind unbehelligt, doch reichlich mit frischer Luft versorgt, durfte ich bis zum Aussteigen dort sitzen bleiben. Wohl auf dieses Erlebnis mag es zurückzuführen sein, daß ich, trotz mancher Versuche meiner Schulkameraden mich zum Rauchen zu bewegen, ein Nichtraucher geworden bin

Kleinbahn Brücke am Treuburger See, Seedranker Berg

In der Nähe des Treuburger Sees führte die Kleinbahnstrecke, der Krümmung des Sees und der Goldaper Straße folgend, in einer langgezogenen Kurve über einen hohen Bahndamm, wo die Kujel, wenn sie sich der Stadt näherte, bergauf fahren und alle Dampfreserven mobilisieren mußte, um die Steigung zu überwinden. Außer den Personenwagen zog die Lokomotive oft noch mit landwirtschaftlichen Produkten beladene schwere Güterwagen, so daß der Lokführer den Dampfhebel auf „volle Kraft“ stellen mußte, um wenigstens langsam voranzukommen. Dann stieß die Lokomotive in gleichmäßigen kurzen Abständen aus dem Schornstein mit wuchtigen Stößen schwarze Rauchpilze aus, die zuerst steil in die Höhe stiegen und sich dann, immer mehr zerfleddernd, entgegen der Fahrt- oder mit der Windrichtung zerteilten, in viele Grautöne wechselten und danach allmählich auflösten. Gleichzeitig traten dort, wo die Kolben des Achsgestänges durch den Dampfdruck in den Zylindern hin- und her bewegt wurden, explosionsartig weiße Dampfwölkchen zischend ins Freie und hüllten die Lokomotive wie die Waggons unmittelbar hinter ihr in einen Dampfnebel. Wie ein riesiger Lindwurm wand sich unsere Kujel so en Berg hinauf, um, auf der Anhöhe angekommen, in eine ruhigere, aber schnellere Gangart überzuwechseln, die Rauch- und Dampfbildung zu drosseln und fortan leiser und behender ihre Fahrt fortzusetzen.

Auf der Rückfahrt hatte sie es natürlich leichter, und dann schien es, als wolle sie es den Fahrgästen so richtig zeigen, zu welchem Tempo sie fähig war. Wenn der Lokführer ihr dann freien Lauf gewährte, sie in immer schnellerer Fahrt bergab rollte und die Zeitabstände sich verkürzten, in denen die Räder er beiden Waggon-Achsen über die Schienenstöße rumpelten, wenn die Räder mit noch lauterem Getöse kurz nacheinander über etliche Weichen rasten, die zum Nebengleis eines Steinbruchs führten, wenn ich aus dem Fenster schaute, und den herannahenden Abgrund neben dem steilen Bahndamm sah, auf den wir zufuhren, in der Kurve alle Räder ohrenbetäubend zu quietschen begannen und ich durch die Fliehkraft gegen die Waggonwand gedrückt wurde — dann bekam ich immer wieder von neuem Angst, daß an dieser Stelle einmal ein Unglück geschehen, etwa ein Rad aus den Schienen springen oder ein Wagen durch das entstandene Übergewicht umkippen der Zug entgleisen und den Abhang hinunterstürzen könnte.

So hatte ich denn auf diesem Teilstück der Strecke immer ein gestörtes Verhältnis zu unserer Kujel, selbst dann, wenn sie hier auf der Hinfahrt wegen der Steigung langsamer fahren mußte und eigentlich kein Anlaß zur Besorgnis gegeben war.

Eines Tages erhielten wir von unserem Klassenlehrer eine Mitteilung an unsere Eltern, daß am nächsten Tag der Unterricht wegen einer Impfaktion ausfalle und wir uns statt dessen ohne Schulbücher um 12:30 Uhr mit dem Impfpaß in der Schule einfinden sollten. Einerseits nahmen wir die Nachricht mit Begeisterung auf, weil wir keine Schule hatten, andererseits war doch kein vollkommen schulfreier Tag, denn der Weg dorthin blieb uns nicht erspart, und der Gedanke an die piekende Impfnadel trug nicht gerade dazu bei, dem Ereignis mit freudiger Erwartung entgegenzusehen. Immerhin brauchten wir aber nicht so früh wie sonst aufstehen und konnten erst mit dem Mittagszug fahren, der um 11:24 Uhr von unserer Haltestelle abfuhr und einige Minuten nach 12:00 Uhr in Treuburg eintraf.
Nur den Impfpaß und die Schülermonatskarte in der Tasche, machte ich mich kurz nach 11:00 Uhr auf zur Haltestelle, der gegenüber, jenseits der Straße nach Mierunsken, das Grundschulgebäude lag. Auf dem Bahnsteig fand ich schon zwei meiner Schulkameraden vor, die viel zu früh losgegangen waren und sich nun die Zeit mit allerlei kurzweiligen Spielchen zu vertrieben. Als ich hinzukam, waren sie gerade dabei, faustgroße Steine zu sammeln, die sie für ein Zielwerfen auf eine der Fensteröffnungen an den Stirnseiten der Wellblechbude verwenden wollten. Die Fensteröffnungen waren nicht verglast, was den Vorteil hatte, daß die Steine, die das Ziel trafen keinen Schaden anrichten und im Innern der Bude landeten. Da sich bisher keine anderen Wartenden, insbesondere keine Erwachsenen, eingefunden hatten, die dadurch hätten gefährdet werden können, stand dem Zielwurfwettbewerb nichts im Wege. Auch ich beteiligte mich natürlich daran, kam mir diese Art Zeitvertreib doch sehr entgegen, weil ich im Schlagballweitwurf immer recht passable Ergebnisse erzielte. Jeder mußte nun aus einer festgelegten Entfernung eine bestimmte Anzahl von Steinen in die Öffnung werfen, die sich als schwarzes Rechteck von hellen Blech der Bude abhob und deswegen ein gut zu erkennendes Ziel bot. während ich meine Steine mit scharfen geraden Würfen dorthin schleuderte, versuchten meine Schulkameraden, ihre in hohem Bogen ins Ziel zu befördern. Ob nun die Entfernung zu groß oder unsere Treffsicherheit noch zu gering war —nur wenige Steine verschwanden im Dunkel der Bude, während die meisten auf die Wellblechwand aufschlugen und dabei ohrenbetäubende Schläge verursachten, denn die Bude wirkte wie ein riesiger Resonanzboden und vervielfachte den Lärm, den die aufschlagenden Steine erzeugten. So dauerte es nicht lange, bis aus dem Schulhaus auf der anderen Straßenseite laute Verwünschungen und Drohungen gerufen und wir zum sofortigen Einstellen unserer Treibens aufgefordert wurden. Ein älterer Lehrer war es, an dessen Unterricht wir vorher gar nicht gedacht hatten, der uns die Leviten las, so daß wir aus Angst, von ihm erkannt zu werden, schleunigst ins Innere der Bude flüchteten, um dort die Schimpfkanonade abzuwarten, die sich mit Ausdrücken wie „verdammte Bengels“ oder „Lorbasse“ über uns ergoß.

Nachdem er verschwunden war, fiel uns eine Beschäftigung ein, die niemanden belästigte und mit unserem Warten auf die Ankunft der Kujel zusammenhing. Die Zeit war nämlich inzwischen soweit fortgeschritten, daß der Zug in Kürze eintreffen mußte. Während wir ihn sonst schon von weitem hören konnten, wenn die Lokomotive läutete oder mit ihren Pfeifsignalen an Überwegen und Straßen auf sich aufmerksam machte, war dies heute nicht möglich, weil ein starker Westwind diese Signale von uns fernhielt, denn die Kujel näherte sich unserer Haltestelle von Mierunsken, also von Osten.

„Wer kann die Kujel zuerst hören?“ rief einer der beiden anderen, und als ob dies ein Kommando gewesen wäre, rannten wir alle zum Gleis, um uns zwischen die Schienen auf die Holzschwellen zu legen und ein Ohr an die blanke Oberfläche einer Schiene zu drücken. Nach einer Weile hörte ich ein leises Rauschen, das beständig stärker wurde. „Sie kommt“ riefen wir fast gleichzeitig und kommentierten lauthals die in den Schienen lauter werdenden Geräusche, die immer mehr das Rollen der Räder erkennen ließen.“Da ist sie!“ schrie einer und alle sprangen wir auf den Bahnsteig zurück, denn schon bog die Lokomotive um die Kurve; doch war sie noch weit genug entfernt, um einen letzten Einfall auszuprobieren, der uns schon oft zur Wiederholung gereizt hatte, weil das Ergebnis immer wieder beeindruckend war: Einer von uns legte einen Kupferpfennig auf die Schienenoberfläche. Ihn behielten wir genau im Auge, als die Lokomotive ihn mit dem ersten Rad überrollte. Er wurde zur Seite geschleudert und blieb , um ein vielfaches vergrößert, jedoch der Inschrift und Zeichen beraubt, plattgedrückt und einem alten englischen Penny ähnlich, neben dem Gleis liegen. Während der Zug hielt, hob ich ihn auf, um während der Fahrt seine wundersame plötzliche Verwandlung mit den anderen zu bestaunen.

Es kam selten vor, daß wir ohne unsere Schulranzen mit der Kujel zur Schule fuhren —höchstens, wenn einmal ein Schulsportfest veranstaltet wurde, zu dem wir nur unsere Sportkleidung mitbringen brauchten. Deshalb fühlten wir uns heute freier, drohte doch kein Vormittag mit dem üblichen Schulstreß. So war es für uns denn auch ziemlich nebensächlich, daß wir zum Impfen fahren mußten; wir genossen einfach den so ganz anderen Vormittag, spielten während der Fahrt Karten, erzählten uns Witze und beschossen uns mit kleinen zusammengedrehten und mit Speichel schwerer gemachten länglichen Papierschnitzeln, die wir mit einem Daumengummi aufeinander abfeuerten, solange wir im Abteil alleine waren.
So verging die Zeit im Fluge und erst in Seedranken fiel mein Blick auf das Ortschild der Haltestelle. Hier stiegen etliche Fahrgäste zu und verstauten ihre Gepäckstücke in den Gepäcknetzen über den Sitzen.

Nun mußte gleich Liebchensruh kommen und dann nach einem geraden Streckenabschnitt jener bedrohlich hohe Bahndamm, auf dem für unsere Kujel in der langgezogenen Kurve die mühsame Steigung begann, die erst einige hundert Meter weiter hinter dem Steinbruch auf gerader Strecke endete. Wie immer, wenn sich der Zug dieser Stelle näherte, beschlich mich das seltsame Gefühl, es könne hier etwas passieren, und während die anderen trotz der zugestiegenen Erwachsenen weiter herumalberten, setzte ich mich etwas abseits von ihnen an ein Fenster. Wieder näherten wir uns dem Abgrund, allerdings viel langsamer als bei der Fahrt in Gegenrichtung; Wieder fingen die Räder in der beginnenden Kurve an zu quietschen, wenn auch nicht so laut und durchdringend wie bei der viel schnelleren Fahrt talwärts und wieder bewirkte selbst die geringe Geschwindigkeit, daß ich spürbar seitwärts gegen die Waggonwand gedrückt wurde und der Wagen zitternd schwankte. Und während wir so die Kurve durchfuhren, malte ich mir in Gedanken die Katastrophe aus: Ein Wagen entgleist, stürzt um und reißt uns alle samt Lokomotive, Personen- und Güterwagen in die Tiefe, hinein in den Wald, von dem man hier oben nur die Wipfel der Bäume sah. Die Vorstellung davon, was sich dann dort unten weiter abspielen könnte, trieb mir den Angstschweiß auf die Stirn, und ich klammerte mich, als stünde das Befürchtete unmittelbar bevor, an den ledernen Fensterriemen, der jetzt, da das Fenster geschlossen war, lang bis zum Boden des Waggons herabhing.

Doch dann hörte plötzlich das Quietschen der Räder auf, weil wir die Kurve durchfahren hatten, das Zittern und Rütteln ließ nach und nur das Keuchen und Zischen der Lokomotive ließen erkennen, daß sie zwar auf der Geraden auch noch Mühe hatte, die Steigung zu bewältigen, daß aber das schwierigste Stück geschafft war. Erleichtert atmete ich tief durch, denn ich wußte: Nun kommt nur noch die Weiche am Steinbruch, über die die Wagen immer poltern und rüttelnd hinwegrollten, und danach wird die Steigung schnell überwunden und wir werden in einigen Minuten am Ziel sein. Eben hatte ich mich von meinem Fensterplatz erhoben, um zu meinen Kameraden zurückzukehren, als der Waggon plötzlich wirklich zu schwanken, mit Getöse zu rütteln und zu holpern begann, um sofort danach abrupt stehenzubleiben, sodaß ich den Halt verlor und mit Fahrtgeschwindigkeit durch den freien Mittelgang vorn gegen die Tür geschleudert wurde, die unser Abteil der 3. Klasse von dem der 2. Klasse trennte. Da die aus massivem Holz bestand und kein Glasfenster wie die Außenfenster hatte, blieben mir Schnittwunden erspart; doch spürte ich nach dem Aufprall Schmerzen in der rechten Schulter. So wie ich in Fahrtrichtung durch den Wagen rutschte, fielen, flogen und wirbelten –je nach Größe und Gewicht- auch die Gepäckstücke aus den Gepäcknetzen nach vorn auf die darunter sitzenden Reisenden, die, um sich vor deren Aufprall zu schützen, entweder die Köpfe einzogen oder Arme und Hände in die Höhe, den herabstürzenden Gepäckteilen entgegenstreckten, um sie abzuwehren oderaufzufangen, was ihnen jedoch nicht gelang, weil der Wagenboden wie bei einem Erdbeben schwankte und ihnen jeden Halt nahm.
Jene Fahrgäste, die in Fahrtrichtung gesessen hatten, wurden nach vorn geschleudert und fielen mit ihren Körpern auf die ihnen Gegenübersitzenden, die von deren Gewicht fast erdrückt wurden und vor Angst zu schreien anfingen. Hatte es ihnen allen während der ersten Sekunden vor Schreck regelrecht die Sprache verschlagen, so löste sich die Schockwirkung, nachdem der Zug stehengeblieben war, so daß alle wild durcheinander schrien und fluchten, während wir Kinder auf dem schnellsten Weg durch die Türen ins Freie zu kommen versuchten.

Wie aus unserem Waggon, so stürzten auch aus den anderen die Fahrgäste schreiend und gestikulierend über die Trittbretter hinaus, und da es hier keinen Bahnsteig gab, halfen viele den Älteren vom unteren Trittbrett aus, das von großen scharfkantigen Steinen bedeckte Gleisbett zu erreichen.
Wir hingegen waren mit einem Sprung unten und schrien uns die Kehlen heiser, um einander auf das aufmerksam zu machen, was da mit unserer Kujel passiert war, indem wir aufgeregt von Wagen zu Wagen bis zur Lokomotive rannten und mit dem Zeigefinger auf Räder und Schienen deuteten. Noch nie hatten wir erlebt, daß unsere Kujel entgleist war, unsere Fahrt auf offener Strecke endete und alle den Zug verlassen mußten. An eine Weiterfahrt war nicht zu denken, standen doch mehrere Wagen, die mit der Lokomotive über die Weiche gefahren waren, nicht mehr auf , sondern mit ihren Rädern neben oder zwischen den Schienen, die wiederum an mehreren Stellen verbogen waren. Die Lok hingegen war –wohl wegen ihres hohen Gewichtes- nicht aus den Schienen gesprungen und stand nun, in Sekundenabständen überschüssigen Dampf ablassend, nutzlos vor dem ersten entgleisten Waggon.
Nachdem sich die erste Aufregung etwas gelegt hatte und die auf dem Nebengleis herumstehenden Fahrgäste erkannten, daß ihnen nun keine Gefahr mehr drohte, überschütteten sie unseren guten Schaffner und Zugführer Lekzig, wie auch den Lokomotivführer mit einem Schwall von Fragen nach der Ursache des Unglückes, wie denn dies habe passieren können, wer wohl Schuld daran war und was wohl geschehen wäre, wenn sich dies auf dem hohen Bahndamm einige hundert Meter vorher ereignet hätte; so als ob beide dafür die Verantwortung zu tragen hätten. Die aber zuckten nur mit den Schultern und gaben so zu verstehen, daß auch sie keine Erklärung für die Entgleisung fanden. Besonnen und geduldig versuchten sie indes die erhitzten Gemüter zu beschwichtigen.

Mich aber bewegte nicht die Frage nach Ursache und Schuld, denn ich deutete die Angst, die mich immer wieder von neuem an diesem Streckenabschnitt beschlich, als eine Vorahnung des nun eingetretenen Unglücks, auch wenn es glücklicherweise nicht dort geschehen war, wo ich es am meisten befürchtet hatte. Und ich erzählte niemandem hiervon, selbst dann nicht, als wir auf dem Fußmarsch zur Impfung und auf der Rückfahrt in einem Sonderbus noch heftig über das Ereignis diskutierten.
Ende der Geschichte. Zurück

aus: Treuburger Heimatbrief Nr. 36, Winter 1998/99, S. 29-40; (geringe Änderungen zur Verbesserung der Lesbarkeit)